Von Krisen, freiheitlichen Grundrechten und dem 08. Mai 2020
Krisen können dazu führen, dass Grundrechte ausgesetzt und abgeschafft werden. Das ist heute nicht anders als in der historischen Vergangenheit. Wir erinnern dieser Tage den 75ten Jahrestag von Untergang und gleichzeitiger Befreiung aus einer menschenverachtenden Diktatur in unserem Land. Die hochbetagten Überlebenden wurden nie müde, uns stets dieser Katastrophe und des Schreckens zu ermahnen, ihre Erfahrungen waren zu schmerzlich. Das kann heute nicht so schnell geschehen wie damals, höre ich Junge und Menschen meiner Altersgeneration sagen, wir haben eine stabile Demokratie. Wir neigen zu denken, die früheren Generationen wussten ja vieles nicht, wir sind heute vernetzt und aufgeklärt. Die Situation der Menschen Anfang 1930 zeigt in manch einem Punkt Parallelen zu heute, eine schwere Rezession und Wirtschaftskrise führte zu hohen Arbeitslosenzahlen, eine Überforderung der staatlichen Arbeitslosenversicherung und allgemeine Angst und Unsicherheit waren die Folgen. Die Demokratischen Parteien waren ohne Zukunftskonzept. Es kam zur Einführung von Notstandsverordnungen und am Ende stand ein Ermächtigungsgesetz, das die Diktatur brachte. Die Abschaffung von Meinungs- und Pressefreiheit, Gleichschaltung der Justiz und Verlust aller Grundrechte führten in eine Katastrophe.
Heute – und Damals
In Ungarn ist durch das Corona-Virus eine Notstandsverordnung entstanden, die eine faktische Ein-Person-Diktatur entstehen lässt. In der Politik und Öffentlichkeit wurde dies nicht in der Bedeutung gesehen, welche es verdient hat. Es ist nicht weniger als die innere Zerstörung der Grundmauern, auf denen ein freies Europa steht. Erschreckend war zudem, dass anstelle einer europäischen Solidarität Grenzschließungen und ein Rückfall in das nationalstaatliche Denken folgten. Nicht nur Italien wird wahrscheinlich sehr hohe Arbeitslosenzahlen und eine schwere Wirtschaftskrise erleben und radikale Parteien stehen in jedem Land bereit, uns das freie Europa zu nehmen. Polen schafft gerade die Gewaltenteilung ab. Die Türkei, welche Andersdenkende wegsperrt und keine freie Presse ermöglicht, sei nur erwähnt.
Der Schutz des Lebens setzt Grundrechte aus
In unserem eigenen Land wurden ebenfalls elementare Grundrechte eingeschränkt. Zur Begründung heißt es: „das Corona-Virus würde keine Grundrechte kennen“. „Der Schutz des Lebens“ sei das höchste Ziel der staatlichen Organe und der politisch Verantwortlichen. Dabei definiert man den Schutz des Lebens wie es gerade opportun ist.
Denn auch die Vernichtung wirtschaftlicher Existenzen von Menschen und deren Familien, das Leid durch Einsamkeit und fehlende Behandlung in Altenheimen, entstehende Obdachlosigkeit und plötzliche Armut gehören zum Schutz des Lebens. Auch dies zu schützen, ist die Aufgabe des Staates.
In Deutschland sind im Jahre 2017 laut statistischem Bundesamt 11002 Menschen bei Haushaltsunfällen ums Leben gekommen. Mehr als die Hälfte waren über 85 Jahre alt. Das Risiko stieg ab einem Alter von 65 Jahren stark an. Im Alter zwischen 5 und 15 Jahren starben 7 Kinder bei Sport und Spielunfällen – also dem Alter in dem man doch am meisten spielt. Im gleichen Zeitraum sind in der Altersklasse 75-85 Jahre 30 Personen bei Sport- und Spielunfällen verstorben. Zum „Schutz des Lebens“ könnte man politisch folgern, der Risikogruppe älter 65 Jahre das Reinigen ihrer Wohnung und Sport und Spiel zu untersagen. 2019 verstarben in Deutschland 3059 Menschen im Straßenverkehr. Müssten wir diesen zum Schutz des Lebens jetzt völlig einstellen?
Auch der „Schutz des Lebens“ steht im Kontrast zu anderen Rechtsgütern, wie wir alle aus der Diskussion um Schwangerschaftsabbrüche lernen konnten und unterliegt der Wertung gesellschaftlicher Normen. Dankbar sollte man kritischen Menschen sein, die das Vorgehen der Entscheidungsträger und Gerichte hinterfragen, eine gesellschaftliche Debatte anstreben, aus der Vielfalt an Meinungen einen Weg suchen. Da ist es leicht, diese pauschal als Wirrköpfe, Verschwörungstheoretiker, Impfgegner, Rechtradikal oder Linksextrem zu bezeichnen, um damit kritische Fragen oder einer Diskussion um Werte zu umgehen, obgleich diese geführt werden muss. Gewalt in Taten, aber auch in Worten, darf keinesfalls toleriert werden. Ein Land, in dem Bücher kritischer Menschen verbrannt oder diffamiert werden, hat bereits seine Würde verloren. Gerade bei einer Bedrohung, einer Krise müssen uns die Grundrechte heilig sein.
Ein schwerer Eingriff stellt beispielhaft die Verpflichtung unter Strafandrohung, einen Mundschutz zu tragen, dar. Auf einer so geringen und widersprüchlichen Datenlage, unter Verweis auf die Internetseite des Robert-Koch-Institutes eine solche allgemeine Verpflichtung zu erlassen, muss als zumindest fahrlässig und nicht verhältnismäßig angesehen werden. Dass dies die Verwaltungsgerichte, wie in Rheinland-Pfalz geschehen, als geeignet, gerechtfertigt und verhältnismäßig erachten, obgleich ein solcher Eingriff die allerhöchsten Standards zu erfüllen hat, muss man als Schwäche unseres Rechtssystem sehen. Das Tragen eines Mundschutzes ist im öffentlichen Nahverkehr, der täglichen Massenveranstaltung, unter der Beachtung weiterer Hygienemaßnahmen sinnvoll, aber als ein verpflichtendes Gebot mit Strafandrohung bedenklich, da schon die Grundannahmen keineswegs medizinisch bewiesen und gesichert sind. Mit Aufklärungsarbeit freiwilliges selbstbestimmtes Verhalten zu erreichen, wäre eine vernünftige und verhältnismäßigere Alternative gewesen.
Die mit der Vielzahl an Verboten in Kombination mit Angst entstehenden Denunziationen stellen eine soziale Gefahr dar. Die östlichen Bundesländer haben ein geschichtliches Wissen wohin Denunziation in der Gesellschaft führt und Menschen verblendet. Sie spalten Gesellschaften in Lager und verhindern Rücksichtnahme und gegenseitige aufrichtige Hilfe. Wenn Sie erahnen wollen, von was ich hier spreche, lade ich sie zu einem Experiment ein. Sie besuchen heute gemeinsam mit ihrem 10-jährigen Asthma-Kind und ihrer 82jährigen herzkranken Mutter, die deshalb beide keinen Mundschutz tragen können, einen Einkaufsladen. Sie selbst stellen sich vor, unter einer Angststörung zu leiden, und können deshalb auch keinen Mundschutz tragen. Wenn sie das in drei Läden durchgehalten haben, wissen sie, wovon ich spreche. Mit Verboten erreichen wir nicht die Herzen, nehmen die Menschen nicht auf einen Weg mit, gemeinsam gegen eine Erkrankung zu kämpfen. Nicht die Angst, die Unsicherheit werden uns weiterbringen, sondern Miteinander, Mut und Rücksichtnahme. Wir brauchen das richtige Maß nicht die Panik und nicht den unbedachten Übermut.
Das Aussetzen der freiheitlichen Grundrechte ist das Gefährlichste, was eine Demokratie überhaupt machen kann. Mit welcher Geschichtsvergessenheit das gerade weltweit aufgrund der Gefahr einer bedrohlichen Infektionserkrankung geschieht, ist gleich einem Spiel mit dem Feuer neben offenen Benzinkanistern. Auch die Menschen damals hatten Angst, viele waren arbeitslos und in wirtschaftlicher Not. Vielen fehlte die Perspektive und dann öffneten sie, ohne es zu merken, die Büchse der Pandora. Glauben sie wirklich, dass kann nicht wieder geschehen? Die Anfänge sind in Nachbarstaaten bereits wieder Realität. Es steht uns eine Bewährungsprobe unserer freiheitlichen Gesellschaft bevor und es wird auf die kompromissfähigen und friedfertig kritischen Menschen ankommen, die aufeinander zugehen und positiv pragmatisch Zukunft gestalten und sich klar gegen jede Form der Gewalt und der Unterdrückung stellen. Aufrichtige Menschen, für die Moral, Rücksichtnahme und Schutz der Schwächeren ein innerer Wunsch und Kompass ist.
Wenn wir die Geschichte nicht verstehen und uns weigern, aus ihr zu lernen, werden wir verflucht sein, sie zu wiederholen!
Nieder-Olm, 08.Mai 2020; 75ter Jahrestag des Kriegsendes
Marcus Berg