Der Fluch der guten Tat – Corona und die Seniorenheime
Mit Anbeginn der ersten Corona-Infektionen Anfang März war allen Ärzten sehr schnell klar, dass vor allem Menschen in Seniorenheimen und Pflegeeinrichtungen in Gefahr sind. Aus vergangenen Grippe-Epidemien wissen wir sehr gut, dass, wenn sich Patienten in einer Pflegeeinrichtung infizieren, häufig in kurzer Zeit sehr viele Patienten betroffen sind. Auch wussten wir aus den Daten aus Italien, dass gerade die hochbetagten Menschen aufgrund schwerer Verläufe und geringer körperlicher Ressourcen an dem Corona-Virus in höherem Maße versterben.
Zu diesem Zeitpunkt hatten wir in Deutschland sehr schnell keinen Mundschutz mehr. Der bestellte Mundschutz war nicht verfügbar und viele Altenheime darauf nicht vorbereitet. So hatten wir für unsere Altenheime, in denen unsere Patienten versorgt werden, eine Nähaktion für Mundschutz gestartet, um das Pflegepersonal ausreichend und gut auszustatten, damit ein häufiges Wechseln des Mundschutzes möglich ist. Das war uns auch nach wenigen Tagen gelungen.
Es kam zu einem strikten Besuchsverbot und zu strenger Isolierung von Patienten, die aus Kliniken zurückübernommen wurden und die außerhalb der Pflegeeinrichtung Kontakt hatten. Ferner wurden die Stationen getrennt, Gemeinschaftsräume aufgelöst, um möglichst Übertragungen von Stockwerk zu Stockwerk oder Station zu Station zu begrenzen. Durch diese Maßnahmen war es uns gelungen, bis heute die Sterbezahlen in den Seniorenheimen und Pflegeeinrichtungen extrem niedrig zu halten. Länder wie Schweden, die eine liberalere und nicht so konsequente Politik betrieben, mussten weit mehr Menschen betrauern. Der gesellschaftliche Konsens war schnell gefunden. Niemand, weder Ärzte noch Pflegekräfte, noch die Heimleitungen, wollten Bilder wie in Italien sehen.
Da ich selbst auch Corona-Patienten in größerer Anzahl behandelt habe, habe ich die Visiten im Altenheim auf ein absolutes Mindestmaß beschränkt und wir haben strengste Hygienevorschriften umgesetzt. Hinsichtlich der Infektionsrate der Patienten waren unsere Maßnahmen ein voller Erfolg. Wir können verzeichnen, dass wir etliche Leben durch diese konsequenten Isolierungs- und Hygienemaßnahmen gerettet hatten.
Nachdem wir nun sechs Wochen konsequent unsere Maßnahmen umgesetzt haben, stand eine umfangreiche Visite in unserem Senioren- und Pflegeheim an. Eine Patientin, Frau Meier (Name geändert), die während der Anfänge der Corona-Infektionen an einer Durchfall-Erkrankung litt und stationär behandelt werden musste, fand ich apathisch in ihrem Zimmer sitzend vor. Die vorher rüstige und agile Frau starrte auf die Wand und war jetzt vollkommen von Hilfe abhängig. Mir war schlagartig klar, was passiert war. Sie entwickelte eine Durchfall-Erkrankung und wurde deshalb auf ihrem Zimmer isoliert und erhielt Flüssigkeit. Nach einer Woche merkte das Behandler-Team, dass es der Patientin sukzessive schlechter ging und verlegten sie in eine Klinik. Dort wurde sie erneut zwei Wochen lang im Zimmer isoliert. Sie hatte mehrere Corona-Abstriche, die negativ waren und wurde schließlich aus dem Krankenhaus wieder nach erfolgreicher Infusionsbehandlung ins Seniorenheim zurückverlegt. Da sie aus einem Krankenhaus kam, gebietet die Robert-Koch-Leitlinie für Pflegeeinrichtungen, dass Patienten für 14 Tage isoliert werden. Das heißt im Klartext, diese Patientin hat mehr als fünfeinhalb Wochen alleine in einem Zimmer von 10 qm zugebracht. Einziger menschlicher Kontakt war morgens, mittags und abends das Essen zu bringen und die basalen Pflegemaßnahmen, Bedingungen wie in Einzelhaft. Die fehlende Ansprache also führte zu einer drastischen Verschlechterung des altersbedingten Abbaus, raubten der Patientin ihre Ressourcen.
Zwei Zimmer weiter treffe ich auf einen schwer kranken bettlägerigen Mann, der nunmehr seit sechs Wochen keinen Besuch von Angehörigen hatte. Zudem musste er einmal zum Wechseln eines Bauchdecken-Blasenkatheters in eine Klinik verlegt werden, Sie können sich denken, was nach Rückverlegung passieren musste – Isolation für zwei Wochen. Er bat mich den Katheter zu wechseln und war den Tränen nahe, als wir möglich gemacht hatten, dass dies auf Station ohne erneute Krankenhaus-Vorstellung möglich wird.
Wieder einige Zimmer weiter, finde ich eine Schlaganfall-Patientin vor. Diese hat durch regelmäßige krankengymnastische Beübung ihren rechten Arm noch nicht gut bewegen können, aber wir konnten die Spastik, die bei gelähmten Patienten leider auftritt, gut verhindern. Bedingt durch die Corona-Krise waren aber die krankengymnastischen Behandlungen praktisch auf Null gefahren worden. Das Ergebnis ist ein nicht mehr bewegbarer schmerzhafter Arm in fixierter Stellung.
Bei nahezu allen Patienten mit Demenzerkrankungen bemerkten wir eine drastische Verschlechterung. Da gemeinschaftlicher Kontakt, gemeinsames Singen oder Sitzen in der Runde nicht mehr möglich war und zudem das schon vorher völlig überlastete Pflegepersonal durch die räumliche Abschottung der Stationen sich gegenseitig nicht mehr helfen konnte, führte zwangsläufig zu einer sozialen Unterversorgung der Menschen. Hierbei hatte das Seniorenheim noch versucht etwas gegenzusteuern und Besuche einzelner Angehöriger ermöglicht. Diese Besuche sahen aber wie folgt aus: Die Angehörigen mussten sich komplett anziehen, Mundschutz, Haube, Kittel und dann hinter einer Plexiglas-Platte Platz nehmen. In einem anderthalben Meter Entfernung saß dann der Angehörige, körperliche Berührung war nicht möglich und viele Angehörige wollten sich das nicht zumuten. Das Angebot wurde kaum bis gar nicht genutzt.
Traurige und sehr demütig machende Situationen entstanden, da Patienten ohne jegliche Begleitung verstorben sind. Während es zu normalen Zeiten möglich war, den Angehörigen rechtzeitig Bescheid zu geben, sodass diese sich liebevoll verabschieden konnten, war dies nicht möglich. Letzte Gespräche zwischen Kindern und Eltern fanden am Telefon statt. Die Pflegekräfte wurden alleine gelassen, so saßen dann Altenpflegerinnen neben dem Bett und versuchten so gut es ging zwischen ihren ganzen Aufgaben die Patienten würdevoll zu begleiten.
Überforderung und Hilflosigkeit sind der Boden auf dem auch Aggressionen und Gewalt gedeihen. So muss man davon ausgehen, dass es in manchen Pflegeheimen zu Übergriffen und aggressiven und gewalttätigen Entgleisungen kam, die durch Isolationsmaßnahmen viel leichter unbeobachtet blieben, wie wir dies ja auch schon vor der Krise in manchen Pflegeeinrichtungen beobachten konnten. Überaus glücklich bin ich, dass ich mit hoher Sicherheit sagen kann, dass dies in dem von mir betreuten Heim nicht der Fall war.
Ich könnte diese Liste jetzt noch über etliche Fälle weiter ausdehnen, aber ich denke, das Problem wird jedem jetzt recht schnell verständlich. Unsere Infektionsschutzmaßnahmen waren erfolgreich, keine Frage, aber wir bezahlen einen hohen Preis dafür. Es ist wie in manchen ethischen Themen so, dass es keine richtige oder falsche Lösung geben kann, weil jede noch so gute Tat gleichfalls Böses nach sich zieht. Als Ärzte wissen wir dies. Jede Maßnahme, die wir treffen, muss wohlüberlegt und angemessen sein und jede Behandlung zieht Nebenwirkungen und unerwünschte Dinge nach sich. So war schnell der Schutz der Seniorenheime und Pflegeeinrichtungen gesellschaftlicher Konsens, doch das Leid, was wir damit auslösten, tragen die Hilflosen und uns anvertrauten Menschen.
Die Aufgabe von allen Ärzten muss jetzt sein, mit Augenmaß Leid zu lindern. Das Lockern der jetzigen strikten Bestimmungen wird mit hoher Wahrscheinlichkeit auch einen Preis haben. Denn es steigt die Gefahr von vielen Toten, wenn es zu einer Infektionskette in einem Seniorenheim kommt. Es bleibt ein ethisch moralisches Dilemma, aus dem es keine glückliche Lösung geben kann.
Es ist der Fluch der guten Tat, dass sie nicht nur Gutes, sondern auch Böses bedingen vermag.
Nieder-Olm, 14.05.2020
Marcus Berg